Es geschah an einem himmelblauen Tag im Juni: Dem Joste-Metzger ging im Schlachthaus ein Zwölf-Zentner-Ochs durch, stürmte ins Freie und setzte die halbe Stadt unter Strom. Gottseidank kam niemand unter die Hufe. Der Koloss hätte ein Blutbad anrichten können.
Er war zunächst in der Wurst-Küche herum gepoltert und dann Richtung Laden gerannt.
Dort vernahm die Kundschaft den Alarm-Ruf eines aufgeregten Metzger-Meisters: „Alles raus!“, begriff aber nicht, warum man sie grundlos schreiend aus dem Haus warf – bis der Ochs im Türrahmen erschien.
Der aber gebärdete sich zunächst überraschend taktvoll, ließ die heikle Glastheke links liegen, umtänzelte mit elegantem Hüftschwung die zu Stein erstarrten Kundinnen und stolzierte mit einer Grazie, die nie wieder bei einem Ochs gesehen wurde, die Treppe hinunter auf die „Obergass“.
Eine Augenzeugin damals zur Rhein-Zeitung:
Doch kaum in Freiheit, nahm er Fahrt auf, stürmte die Hauswände entlang, rammte mit dem Hinterteil zwei unschuldige PKW und rannte die „Bauersgass“ hinunter in die „Unnergass“ (Langstraße).
Von dort vertrieb ihn der Geruch des Schlachthauses zurück auf die Ortsdurchfahrt, wo sich die Bacharacher vor ihm schreiend in die Hauseingänge flüchteten. Vom allgemeinen Chaos vollends außer Rand und Band, trampelte das allmächtige Kaliber durch die frisch bepflanzten Blumenkübel vor dem Schaufenster der Gärtnerei Reuschenbach, schlug vor dem Rathaus einen Haken und jagte die Zollstraße hinunter – verfolgt von einer Hand voll kühner Mannsbilder.
Hier nahm der Ochs, nichts war ihm heilig, unter martialischem Gebrüll das Blumen- und Gemüsebeet der katholischen Kindergruppe „Bienenstock“ ins Visier, machte Stiefmütterchen, Petersilie und Tomaten dem Erdboden gleich, und kaum war das erledigt, begann er, das restliche Gelände umzupflügen. Beet für Beet.
Das Maß des Erträglichen war überschritten! Ein Metzergmeister im Ruhestand stellte sich dem Unhold in den Weg, schien aber außer Übung im Umgang mit enthemmtem Schlachtvieh. Er wurde auf die Hörner genommen, in der Luft herum gewirbelt und gegen den Bahndamm geschmettert.
Inzwischen war unter sämtlichen Zeugen der Tragödie Panik ausgebrochen: Der beschrankte Bahnübergang und die B9 flankierten die Kampf-Stätte. Es drohte Unheil groben Ausmaßes.
Aber dann erschien
und mit ihm die Aussicht auf Erlösung. Doch selbst der Jagdhüter für die Bacharacher-Wald-Reviere Nord und Süd, Gott hab ihn selig, war nicht gleich siegreich. Sein Schuss in des Bullen Hals verpuffte wirkungslos. Erst ein gezielter Treffer hinterm Ohr endlich beendete den Spuk in der Morgenstunde. Was blieb war die gute Nachricht des Tages.
Nachtrag:
Das war im Jahre 1992. Den missglückten Kampfeinsatz des Metzgermeisters zu Füßen der Wohngemächer unseres Pastors habe ich in meiner Reportage für die Rhein-Zeitung unterschlagen – mit Rücksicht auf den Stolz des Opfers.
Nun ist der Mann aber schon lange tot, weshalb ich mir erlaubt habe, den Zeitungs-Artikel von vor über zwanzig Jahren zu vervollständigen. Ich schätze, wo der Meister jetzt ist, steht er über solchen Eitelkeiten. Der Herr Pastor wird mir beipflichten.