Flippern ist eine kindsköpfige Leidenschaft, ein pränataler Spieltrieb, der in jedem schlummert, bis ihn eines schicksalhaften Tages der Zufall ans Ufer eines Fließgewässers treibt, das seine geologische Bodenbeschaffenheit mit der des „Ketzer“ teilt. Sofort ist eine satte „Flipperei“ im Gange. Ein Spaß für alle Altersgruppen – aber bitte mit Abstand!
Das Paradies für Flipper-Freunde ist der schmale Uferstrich vi-à-vis der Insel, übersät von einem Universum kleiner Schiefersteine, platt wie Bierdeckel, die dort tausendfach herumliegen, und deren eigentlicher Zauber in einem Umfeld schlummert, das göttlich ablenkt: Der Strand ist überrollt von einem Sammelsurium aus angeschwemmtem Treibgut. Das kann locker mit der querköpfigen Produktpalette von Trödlermärkten konkurrieren.
Da dümpeln in der Brandung schon mal Wanderschuhe, die die Welt gesehen haben, oder verdellte Haushaltssiebe, Kaffeekannen, Baumstämme in voller Länge, und seltsam aber wahr: ein altes Scheunentor stieß auch einmal an Land.
Am „Ketzer“ findet sich alles, was der Mensch zum Leben nie und nimmer braucht oder vielleicht doch noch, falls irgendwann ein Börsencrash Europa in den Abgrund stürzt.
Hier habe ich, es ist schon viele Jahre her, mit meinen kleinen Nichten die Friedhofs-Ruhe aufgemischt, die über dem angeschwemmten Flohmarkt hing.
Idealerweise lagen damals, wild verstreut, Backsteine kreuz und quer am „Ketzer“, auf die der Münzbach ein Leben lang gewartet hatte. Damit haben wir sämtliche Mündungsarme des Amazonas gestaut, brutal umgeleitet und das Machwerk als flusslaufbegradigtes Meisterwerk dem Rhein zugeführt.
Der Wurftechnik perfekter Flipperei indes standen meine kleinen Geister noch recht hilflos gegenüber. Jubelnde Begeisterung hingegen galt faustgroßen Steinkalibern aus Kiesel, Grauwacke oder Schiefer, genannt „Wacker“.
Diese wurden in der Hosentasche nach Hause transportiert und während dämmriger Winternachmittage knallbunt angepinselt. Noch Jahre später musterten sie mich mit Gespensterblick als Steine-Püppchen von abenteuerlicher Ausstrahlung aus der Tiefe meines Wandregals. Die Zeit am „Ketzer“ war Glück. Tanten-Glück.
Vor langer Zeit wuchs in der Sand- und Steinwüste am „Ketzer“ eine Tomate! Hand aufs Herz, sie wuchs tatsächlich. Ein rachitisches Geschöpf war das, an dem drei dünne, grüne Knollen hingen.
Das klammerte sich mit der Überlebenswut benachteiligter Kreaturen an seinen Standort und trotzte Blitz und Donner, Wolkenbruch und Hagelschlag. Dennoch gab niemand dem Armutskind dort eine Chance, zu überleben. Da griff der Sommer ein!
Der wurde immer heißer und heißer in jenem Jahr und bescherte der Tomate am „Ketzer“ die idealen Wetterbedingungen für ein Durchkommen auf lebensfeindlichem Terrain.
dafür aber genoss sie um so eindringlichere Aufmerksamkeit vonseiten noch fußtüchtiger Rentner. Diese statteten jeden Tag der Mondlandschaft am Bacharacher Rheinufer einen Besuch ab, um mit dem Scharfblick überreifer Lebensjahre das ungewöhnliche Überleben einer gewöhnlichen Tomate zu studieren.
Im Fieber einer von den Toten auferstandenen Jugendleidenschaft kramten sie im Sammelsurium der platten Schiefersteine, pulten sich die griffigsten heraus und schwuppdiewupp war eine satte Flipperei im Gange.
Bald erglühten die Knollen der zur Einsamkeit verdonnerten Tomate unter dem mitfühlsamen Interesse der betagten Herrenrunde in einem strahlenden Karminrot – und blieben zum Erstaunen aller hängen. Niemand riss eine ab, keine fiel runter.
Man schloss im ersten unfassbaren Augenblick, man hätte sich verlaufen in der grauen Öde vis-à-vis der Insel, so zuverlässig hatte der Winzling dort monatelang Gewehr-bei-Fuß verharrt. Aber die Tomate blieb verschollen.
Eine Zeit lang wurde aus Protest wider die Plünderung einer wehrlosen Gesteinslandschaft weiter geflippert auf vereinsamtem Terrain. Schließlich aber blies vom Wasser her der Herbstwind, rau und bissig, vertrieb die wetterfühligen Senioren in die windgeschützte Altstadt, und der Ketzer setzte wieder seine steinerne Visage auf. Die gefällt nicht jedermann.
Wer ist schon erpicht darauf, am Rheinufer versprengte Splitter von hochgebranntem Steinzeug weiß der Geier welcher Herkunft mit der Schuhspitze aus dem Ufersand zu schubsen.
Und die Zeit mit der Suche nach einer Antwort auf die absurde Frage tot zu schlagen, von welchem Polterabend aus sich das Trümmerteil aus weißem Porzellan wohl auf den Weg nach Bacharach gemacht hat.
Wie wär-s mit Hochzeits-Schauplatz „ebsch Seit“? Warum nicht! Die Rheingauer sind sooooooo viel lockerer gestrickt als unsereins. Die kassieren die komplette Nachmittagssonne, tierische Oechsle-Grade und die samtigen Hänge des Rheingaus, die einem immer vorgaukeln, man wär schon im Tessin. Freilich wirkt sich das aus.
Ganz anderes Thema: die hoch gewachsene Weide am Fuß der Ufer-Böschung war in meiner Kindheit einmal fast so kleinwüchsig wie die von Unbekannt verschleppte Tomate.
Inzwischen überweht ihre Löwenmähne die Kronen aller Artgenossen, sie hat an die fünfzig Hochwasser überlebt, in zarten Jugend-Jahren sogar wochenlange Wasserstände über Kopf – und ist immer noch da!
Der Volksmund schwört zwar, eine Katze verfüge über sieben Leben, doch „meine“ Weide am „Ketzer“ verfügt wahrscheinlich über hundert und hat garantiert beobachtet, wer die einsame Tomate geklaut hat. Warum sagt sie das nicht !
Am „Ketzer“ hat ein Blick aufs Wasser einen Reiz, der schwer mit Worten einzufangen ist. Hier zeigt Vater Rhein schon mal das schwarz-grüne Protestgesicht eines Gewitterhimmels, und das hat dann nicht die Spur mehr etwas gemein mit jenem taubenblauen Band, das man sich vom Flieger aus so weltvergessen friedlich zwischen den Rebenhängen schlängeln sieht.
Das rührt von den windzerzausten Kronen uralter Inselbäume her, die rätselhafte Bilder auf die Wasseroberfläche malen und entrückte Seelen gerne mal von Zeiten schwärmen lassen, da es „im Rhein-Tal von Feen und Legenden nur so wimmelte“ (Victor Hugo).
Wohltuend still ist es am „Ketzer“, so wie jetzt. Weit und breit kein Schiff in Sicht. Nur am Horizont wummert sich mit monotonem Singsang ein mächtiger Container im Schleichgang einer Landschildkröte Richtung Trechtingshausen aus der Bilderbuchidylle, und am Himmel brummt ein Flieger.
Schließlich verschwindet auch die Sonne hinterm Schlossberg, von den Hängen fällt die Dämmerung übers Wasser und das Transportgefährt am Horizont löst sich im Dunst der Ferne auf. Zwischen die Insel-Bäume kriecht die Dunkelheit, vom Fluss her bläst nasskalter Wind – Zeit, den Heimweg einzuschlagen, doch
Unglaublich wie spektakulär lautlos der plötzlich hinter den zerzausten Wipfeln von „Heylessen Werth“ ins Bild schwebt. König der Schwäne aus dem Nichts, der jetzt auch noch steil auf mich zu hält und die Erinnerung wach ruft an jene Touristin aus Castrop-Rauxel, die mir einmal schwor, am Rhein hätte sie immer „so ein stolzes Gefühl“.
Es war an einem Nachmittag im Spätsommer vor vielen Jahren. Die Sonne verschwand gerade hinter den Zinnen von Burg Stahleck, da blitzte im Uferwasser in einer ihrer letzten Strahlen ein nachtgrünes Stück Glas auf.
Das entpuppte sich als das untere Ende einer Weinflasche. Die war luftdicht verkorkt, enthielt ein zusammengerolltes Stück Papier und auf dem stand, in einer müden Schrift geschrieben:
„Lieber Finder. Wenn Du mich entdeckst, bin ich am Ende eines langen Lebens angekommen und alt genug für einen guten Rat: Tu immer, wonach Dein Herz verlangt! Der Teufel holt Dich, wenn der Tod anklopft, und du entdeckst, dass Du nicht wirklich gelebt hast. Ich habe es versäumt. Es tut weh, ein trauriger, alter Mensch zu sein“.
Ich griff mir den nächsten Schieferstein und warf ihn übers Wasser. Der sprang um Kopf und Kragen: fünfzehn Mal! Das nahm ich als Zeichen. Am nächsten Tag kündigte ich meinen Job als Chefredakteurin der Neuen Binger Zeitung, packte die Koffer und flog auf die Insel, mit zweiundfünfzig Jahren! Ich habe es nie bereut.
Der „Ketzer“ übrigens scheint voll auf meiner Seite gewesen zu sein. Er ist schöner denn je.