Unser “Altes Haus” ist weltbekannt und nicht nur das: es strahlt einen Willen zum Leben aus, der so stählern rüberkommt, dass sich im Kopf der Bevölkerung die Gewissheit verschanzt hat, es sei schon immer da gewesen.
Schließlich existiert kein noch so altväterliches Foto, kein zeitgeschwärztes Ölgemälde, kein Uralt-Stahlstich und keine vergilbte Kohlezeichnung vom Marktplatz unserer kleinen Stadt, worauf nicht schon das „Alte Haus“ die Stellung hält.
Mal in unversehrter Schönheit, mal vom Feuerteufel angeknabbert aber immer preußisch standhaft wie die Wacht am Rhein und vom Dachfirst bis zur Kellertreppe durchdrungen von der allmächtigen Berufung, die Erinnerung an das Vorleben Bacharachs am köcheln zu halten bis zum Ende aller Tage.
Wer im „Alten Haus“ einkehrt, sollte sich Zeit lassen bei der Suche nach einer passenden Sitzgelegenheit. Für`s erste und zur Einstimmung auf die Begegnung mit geschichtsträchtigem Ambiente bietet sich der obere Gastraum an. Dort lockt ein Plätzchen auf der Holzbank rechts vom alten Kachelofen.
Kaum sitzt der Gast, fühlt er sich wie zurückgebeamt in die Vergangenheit: Leise knarrt die Bodendiele und durch die Butzenscheiben der betagten Straßenfenster blitzen Sonnenstrahlen. Die malen zarte Lichterspiele auf die Deckenbalken und lassen das beste hoffen.
Draußen vor der alten Holztür mit den welken Schnitzereien summt die Geräuschkulisse einer umtriebigen Touristenstadt, im Gastraum gibt zurückgenommene Beschaulichkeit den Ton an. Es ist, als ob ein Schweif wärmender Behaglichkeit durch die Stille streift und Erinnerungen wach ruft an den unschlagbaren Duft eines Sonntagsbratens aus den Fünfzigern. Das macht auf der Stelle hungrig. Ein“schnippisch Ecksche“ zum speisen ist schnell ausgemacht.
Gleich links vom Eingang, bitteschön, und dort in der intimen Lauschigkeit eines kleinen Erker-Zimmers. Hier lockt ein Panoramablick über den gesamten Marktplatz. Er lädt zum Sitzen ein, um nie mehr aufzustehen.
Von der Wand herunter grüßen, dezent gerahmt, Fotografien populärer Künstler, die einmal kulturelle Reichsgeschichte schrieben. So auch die Celluloid-Schönheit Henny Porten.
Überliefert ist der sensiblen Mimin aufwühlende Begegnung im Zimmer-Spiegel mit der ersten Falte ihres Lebens. Ihr spitzer Aufschrei der Verzweiflung soll bis zum Bahnhof durchgedrungen sein.
Womit längst nicht alle Räumlichkeiten des „Alten Haus“ erschlossen sind. Gleich rechts vom Eingang, und nicht zu übersehen, lockt noch ein gastliches Refugium. Hier zieren drei große Butzenscheiben-Fenster stilgerecht die Straßenseite.
Ihr Mumienblick von Flaschenböden aus verstaubten Kellerecken mustert die Gäste mit dem Stolz von sechshundertdreiundsechzig Jahren Stadtgeschichte – und ruft nach einem Gläschen Wein zum Nachtisch am Holztisch mit der schmalen Taille.
Möglich aber auch, dass den Gast die Suche nach dem perfekten Sitzerlebnis weiter umtreibt, nun wieder zwei Holzstufen hinauf in jenen Raum, wo die Feuerstelle aus hochgebranntem Steinzeug die althergebrachte Stellung hält. Dort angekommen fasst er nicht, was er erst jetzt entdeckt: ein Schwergewicht von Theke aus massiver Eiche.
Das thront am Stirnende des Schankraumes und gibt linkerhand den Blick in ein Nest von Zimmerchen frei:
Ein Mini-Räumchen mit verhuschtem Spatzenblick auf die Ortsdurchfahrt! Hier sitzt seit Zeitgedenken der gute Geist des Hauses und tüftelt an der Speisekarte.
Animiert vom Zauber der Entdeckerfreude nimmt nun der Gast noch einmal die verspielte Runde durch vier Räumlichkeiten auf. Wann führt den Mensch vom platten Land schon mal der Weg ins „Alte Haus“. Schließlich setzt er sich irgendwohin, wo er grad steht, womit ihm auf jeden Fall gedient ist:
Das ruft nach angemessenem Benimm: Ein wenig klamm vom frommen Blick der Butzenscheiben und dem schweren Odem der Vergangenheit, hofft der Gast denn auch auf die Bedienung.
Leise scharrt er mit den Hufen, um irgendwie die Zeit zu füllen, flüstert mit dem Tischnachbarn im Brummton braver Kirchgänger, nimmt steile Haltung an vor der Wandvertäfelung aus uralter Eiche, bläst zum dritten Mal keinen Staub vom Tischtuch und mustert mit leerem Blick die auf Hochglanz polierten Bodendielen, und dann, ja dann kommt tatsächlich „die Bedienung“.
Was sie tut, hat immer auch den Anstrich exquisiter Qualifikation, egal in welcher Tagesform sie gerade mit dem Besteck klappert. Hier geht noch der Geist gepflegter Bewirtungs-Kultur aus den honorigen Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg um, da ein Tourist aus Nordfriesland als Weltenbummler gehandelt wurde, dem man mit loderndem Respekt begegnete.
Das Personal hing an seinen Lippen, weil eine Reise in die Südsee in jenen Tagen noch absolut kein Thema war, und nur der Geografie-Lehrer wusste, wo denn die Seychellen liegen.
In der Masse Mensch allerdings, die jedes Wochenende aus den voll gestopften Sonderzügen quoll, drei aufgekratzte Stunden blieb und mit dem „Dampfer“ lärmend wieder abzog, in diesem Pulk stimmungsfroher Eintagsfliegen hieß er „Fremder“, der Tourist. Was durchblicken lässt, dass hier Wert auf diskreten Abstand zwischen Wirt und Kunde gelegt wurde.
Jedoch als Ankömmling mit Staubmantel, Anzug, Köfferchen und Krawatte, der wegen seiner weiten Anfahrt über Nacht in Bacharach verweilen musste, avancierte er zum „Gast“, der „Fremde“. Warum? Weil sich der Wirt durch seine weitgereiste Gegenwart innerlich emporgehoben fühlte.
der immer etwas zu berichten wusste, das in Bacharach neu an kam. „Die Bedienung“ sprach mit ihm, als kokettiere sie mit dem Wind, und das Zimmermädchen löste sich in überwältigenden Zukunftsträumen auf.
Ein solcher Gast kam gar oft ins „Alte Haus“ vor vielen, vielen Jahren und war zu jener Zeit f a s t so berühmt wie Elvis Presley heute (nicht schmunzeln, kommt irgendwie hin).
Allerdings frage ich mich, ob es noch Sinn macht, im Jahre 2019 seinen Namen preiszugeben, weil die Zeit so schnelllebig geworden ist, dass selbst Robert Stolz ein Künstler sein dürfte, den heute kaum mehr jemand kennt – aber ach, da ist er mir schon rausgerutscht.
Ein Komponist volkstümlicher Operetten (weiterlesen, wird trotzdem interessant). Dieser hatte sich während ungezählter, weinseliger Visiten im “Alten Haus“ so von Herzen wohl gefühlt, dass er für das von ihm hochverehrte Anwesen ein Singspiel komponierte.
Er nannte es „Wenn die kleinen Veilchen blühen“ und krönte es mit einem Refrain, der den Namen unserer kleinen Stadt berühmt machte:
“… und kehrst Du ein ein Stündelein im alten Haus beim Wein, dann siehst du doppelt Bacharach und doppelt auch den Rhein“
Die herzige Liebesgeschichte zwischen dem reisenden Studenten und der kleinen Kellnerin stieg auf zum Welterfolg. Sie wurde rund um den Globus populär wie heute „My fair Lady“!
Und fast wäre Bacharach für immer in die Annalen der Musikgeschichte eingegangen, wenn sich der Geist der neuen Zeit nicht so peinlich ignorant verhalten hätte: In den sechziger Jahren hob das Fernsehen die „Kleinen Veilchen“ auf den Bildschirm – und man fasst es nicht: mit Schauplatz Graz in Österreich. Nix gegen Österreich, aber der Stilbruch ist unentschuldbar!
Geblieben ist die weltweite Einmaligkeit eines Fachwerkhauses, von dem der Architekt behauptet, es verfüge über
Und in dem selbst „die Bedienung“ – damit komme ich zurück zur Besonderheit des Personals im ”Alten Haus” – in dem selbst die Bedienung keine ist wie jede andere. Lange Zeit war das vor allem Annie*).
Annie hatte bereits, noch ein „I-Dötzchen“, bei einer Aufführung der Operette in den Bacharacher Rheinanlagen mitgewirkt – als Statistin. Ein zartes Veilchen, klein und schüchtern, das stumm den Kopf im Takt der Melodien wiegte. Die Zeit verging und das Blümlein hatte sich brutal gemausert, als ich Jahrzehnte später und zu Gast im „Alten Haus“ vor seinem donnernden Organ erschrak.
Das Stimmgewaltige hatte sich Annie in jenen atemlosen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg angeeignet, da die „Fremden“ in sintflutartigen Wellen das „Alte Haus“ fluteten und, vom Weingeist außer Rand und Band, nicht mehr alleine durch den frommen Blick der Butzenscheiben zu domestizieren waren.
Wenn Annie dann mit ihrer Hunsrücker Männerstimme aufmarschierte, die brettsteife Leinenschürze auf dem Spitzbauch und die „Riesen-Schlopp“ am „Bobbes“, knarrten die Dielen forsch bis säbelrasselnd, der ehrwürdige Kachelofen setzte seinen Gendarmen-Blick auf, und der schwere Gong der alten Standuhr schwieg dröhnend. Der Rest war Routine.
Die beherzte Art von Annie, jeden Kegelclub der neuen Zeit in Schach zu halten, blieb unerreicht, was aber unterm Strich kaum negativ zu Buche schlägt. Neben jedem hilfreichen Geist von heute läuft immer auch die kompetente Aura der längst verstorbenen Annie mit.
der ehrwürdige Kachelofen hat ihr Adlerauge aufgesetzt, und wenn der Herbstwind um die alten Mauern brettert und in der Regenrinne orgelt, hört sich das an, als sei Annie wieder eingeschwebt, um die Fenster zu verriegeln, damit das “Alte Haus” nicht auseinanderfliegt.
Annie*): Name geändert