Wer liebt ihn nicht, den malerischen Palisadengang hoch oben auf der alten Stadtmauer! Doch manch ein Tourist bekommt ihn gar nicht zu Gesicht. Das ignorante Zwergenschildchen, am Ende der Bauersgasse unterhalb der Mauerkante angedübelt, wird allzu gerne übersehen. Tatsächlich aber steht dort schwarz auf weiß: „Zur Stadtmauer. Öffentlicher Weg”.
Als mächtiger Wall aus robustem Bruchstein schützte die Stadtmauer im Mittelalter Bacharach vor feindlicher Belagerung. Heute beglückt sie Einheimische wie Touristen als topromantischer Wandelgang, beschirmt vom zarten Flügelschlag des Friedens, und zaubert Ruhe in die Alltagshektik.
Die längst fällige Verkehrsberuhigung der Altstadt scheint nach wie vor kein Thema für den Stadtrat, auch wenn das kein Mensch versteht. Dafür aber geht das Herz dem auf, der zum Einkaufen schnell mal über „den Mauerweg“ huscht.
Kein Verkehrslärm traktiert das Trommelfell und kein Stau im Engpass verbarrikadiert den Weg beim morgendlichen Brötchenholen. Nein, urplötzliche Ruhe erhebt den Weg zur Gnadenmeile, kaum dass man den Fuß auf den schmalen Mauerweg gesetzt hat: irgendwo schnappt leise eine Haustür zu, am Himmel brummt ein Flieger und vom Wasser her wummern die Schiffsmotoren ihr tibetisches Gebetsgemurmel hoch auf den mausestillen Wandelgang.
Es ist, als stünd das Rad der Zeit still, und der Mensch hebt an zu träumen. Er fühlt sich ins Tessin versetzt: Die ersten Stockwerke der Häuser überstülpen, auf filigranen Säulen balancierend, ein beinahe handtuchschmales Wegelchen, und veredeln es zu einem romantischen Arkadengang mit Traumblick über den Rhein.
Bahnlärm zählt hier übrigens zum Lebensalltag wie das Wetter und wird, wenn möglich, so nachhaltig überhört wie das Schild „Stadtmauer öffentlicher Weg“ gerne übersehen wird.
Freilich erlebt manch ein Tourist das durchaus anders. Eine Nacht auf der Stadtmauer mit Engpass im Güterverkehr reicht aus, und der Morgenspaziergang am Rhein rettet auch nichts mehr. Fritz Stüber, der geschätzte Seniorchef des Rhein-Hotel, Gott hab ihn selig, hat seinen Gästen einst empfohlen:
und die haben das dann begeistert in die Tat umgesetzt. Was sich aber dem Vernehmen nach nicht als brauchbares Rezept für jedermann erwiesen haben soll.
Ein Teil der lärmgeschädigten hat sich nachts im Dschungel schwarzer Alpträume verirrt, doch überraschenderweise, auch wenn hier die Logik hinkt, sind fast alle wieder gekommen.
Inzwischen hat es „langjährige“ Touristen, für die ist „die Bahn“ längst Heimatgeräusch. Wieder zuhause, schrecken sie nachts aus den Federn, weil durch Traunstein kein Zug rattert.
Auch das ist noch nicht alles, was den Stadtmauerweg so speziell macht. Stichwort: die „Terrässjer“ (Kleinterrassen). Diese sind keineswegs nur hübsch anzusehende Zeugnisse architektonischen Ideenreichtums sondern das Produkt haariger Versorgungsnotstände aus Zeiten, da ein Karnickel im Stall noch eine die Magennerven beruhigende Investition war.
Ihre baulichen Vorläufer hatte man aus sprödem Nachkriegssperrholz gezimmert, deren Verschläge wie Schwalbennester am Fuß der Stadtmauer klebten.
Darin hielt man Hühner, Gänse und Hasen und bewahrte allerhand Gerümpel auf, für das sich im Haus kein Platz mehr fand. Als es wieder für ganz Deutschland genug zu essen gab, rüstete man die Jammerkästen in Schuppen für technisches Gerät um, verpasste ihnen Wände aus Beton, zog die hoch bis auf den Mauerweg und weihte ihre Dächer zu Terrassen.
Dort blühte die Geselligkeit. Es gab Wein. Vom Winzer! Ein stimmungsfrohes Miteinander war das Leben auf der Stadtmauer, als es sich noch lohnte, nur zwei „Wingerter“ zu bewirtschaften und das Endprodukt wem auch immer auf dem zur Straußwirtschaft umfunktionierten „Terrässje“ zu kredenzen.
Es hat puppenkleine, die mit Frischluft-Sammelsurium voll gerammt sind bis in die letzten Winkel sowie gähnend leer stehende in sträflicher Größe der Verschwendung.
Zwei Winzlinge, in denen man sich kaum um die eigene Achse drehen kann, sind im Sommer komplett von Topfpflanzen belagert. Es plätschernden Minibrunnen im Puppenhausformat, leuchten bunt angepinselte Liegestühle und polierte Windlichter.
Ein Terrassenboden ist komplett mit weißen Kieselsteinen ausgelegt. Darauf tummelte sich vor kurzer Zeit noch ein Sammelsurium von Souvenirs aus aller Herren Länder und von der Mauerkrone lächelte, in Ton gebrannt, der Erzengel Gabriel mit der milden Güte herer Himmelsboten. Der Schönheitssinn einer resoluten Neubürgerin aus der Großstadt hatte hier gewütet. Kein Tourist sah sich in der Lage, mit gleichgültigem Gesicht an der liebenswerten Nippes-Euphorie vorbei zu laufen.
Das ehemalige „Terrässje“ von Frau Basquit (inzwischen verzogen) gehört eingehender gewürdigt. Es hat die Ausmaße einer richtigen Terrasse. Man könnte darauf Formation tanzen, ohne sich gegenseitig in die Hacken zu treten.
Es ist immer frisch gestrichen vom Boden bis zur Mauerkrone und fasziniert mit gähnender Leere. Auf ihm spielt sich absolut nichts ab. Bis auf einmal im Jahr. Dann blüht eine Kaktee von üppigem Wuchs in einer an Maßlosigkeit grenzenden Fülle aus ziegelroten Muschelknospen.
Möglicherweise geht hier der Geist des längst verstorbenen Herrn Basquit um, dessen mit fühlsame Tapferkeit man zu Lebzeiten zu würdigen vergessen hat. Ich hole das jetzt nach:
Der Basquit war ein Bacharacher Fährmann mit ehrenwertem Kapitänspatent, der aber nach dem Zweiten Weltkrieg aus mir unbekannten Gründen kein großes Schiff mehr fuhr. Dafür jedoch betrieb er zu unser aller Dankbarkeit mit seinem motorgetriebenen Holzkahn eine private Personenbeförderung zwischen Bacharach und Lorchhausen.
Trotz stabiler Bodenhaftung, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, hatte der Mann wie alle „Schiffische“ etwas losgelöstes im Blick, eine Art Freigeist nomadisiernder Völker. Das prägt den Alltag. Man riskiert schon einmal etwas, das sich der bedingungslos gehorsame „Normalbürger“ verkneift.
Auch der Basquit hat riskiert, 1945, mit seinem Kahn der Kähne, unter scharfem Beschuss der Besatzungsmacht und Einsatz seines Lebens: Deutsche Soldaten, die sich nach der Flucht aus der Gefangenschaft in die Heimat durchgeschlagen hatten, hat er im Schutz der Nacht mit seinem „Hol über“ vom rechten Rheinufer aus nach Bacharach gelotst.
Vielen hat er auf diesem Weg das Leben gerettet. Und indirekt neues geschaffen, streue ich jetzt mal eine gewagte These ins Gespräch: Denn der Nachwuchs jener Heimgeholten, damals noch nicht einmal ein sündhafter Gedanke, bummelt heute möglicherweise als Rentner über den Mauerweg und ahnt nicht, dass er seine Existenz der freigeistigen Losgelöstheit im Blick von einem “Schiffische“ verdankt, der sich gerade mittels einer fürchterlich blühenden Kaktee aus dem Jenseits meldet. Was für eine Geschichte!
Auch namhafte Künstler sind dem Reiz der Stadtmauer erlegen. Die Vernissagen und Lesungen im “Atelier am Strom” sind viel beachtete, kulturelle Ereignisse, zu Gast immer auch prominente Köpfe aus der Welt der Medien. Die Skulpturen und Plastiken dort von Liesel und Johannes Metten genießen weit über die Region hinaus Anerkennung und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
A propos „Terässje“: die beschauliche Zeit der Straußwirtschaften im Gartenzwergformat ist passee. Dafür kann der Gast jetzt gepflegt Quartier beziehen auf der Bacharacher Stadtmauer. In zwei richtigen Hotels!
Eines davon residiert im Erdgeschoss des mächtigen
Im gedämpften Licht des Gastraums scheint nach dem Ersten Weltkrieg der Lauf der Geschichte eine Pause eingelegt zu haben. Im erbaulichen Sinne. Die holzgetäfelte Idylle lockt mit althergebrachter Verweilbehaglichkeit, und manch gestresste Seele entspannt bereits, kaum dass sie durch die schwere Eichentür das Restaurant betreten hat.
Ein paar Meter weiter lockt
Der traditionelle Familienbetrieb leuchtet jedes Mal wie ein Stern vom Bildschirm, wenn das Fernsehen von Europas größtem Strom berichtet.
Hier zaubert Chef Andreas – auch ein populärer Radio-Koch des SWR – regionale Spitzen-Küche mit überregionalem Pfiff aus Produkten der mittelrheinischen Heimat. Die gesellige Atmosphäre auf der Großterrasse mit Blick auf den Rhein ist unbezahlbar. Wer hier sitzt, will kaum mehr aufstehen.
Zurück noch einmal zu den „Terrässjer“: Ab und zu verkommt auch eines, so ist das Leben. Dies jedoch nur dann, wenn im Haus dahinter niemand mehr wohnt. Dann vergammelt schon einmal ein schrottreifes Fahrrad, wo andernorts polierter Nippes blinkt, und auf dem rissigen Betonboden macht streunender Moosbewuchs der Kaktee von „dem Basquit“ Konkurrenz. Dies aber schmälert den Reiz des Stadtmauerwegs um gar nichts. Bacharach ist kein second-life-Tempel aus dem Internet, uns gibt’s wirklich.
(zugegeben, das ist jetzt etwas völlig anderes), der kann auf der Stadtmauer fündig werden! In stillen Ecken nackter Fensterbänke und sinnentleerten Mauernischen haben gute Geister und Verehrer des geschriebenen Wortes kleine Stöße lesenswertes deponiert, das zu Hause Platz raubt und Staub fängt.
Man kann die Fundstücke mitnehmen oder liegen lassen. Oder in der Schießscharte lümmelnd beim Schmökern auf den Spuren von Karl May die Welt vergessen, dieweil vom Rhein herauf die Schiffe tuckern. Man kann aber auch selbst lesenswertes von zu Hause mitbringen und auf irgendeiner Fensterbank vergessen. Auf der Stadtmauer ist nichts wie anderswo.
Ich habe einmal ein Büchlein mit gehen lassen. Titel: „Wie man Kontakt zu Engeln aufnimmt“. Passiert ist bis jetzt nix. Ich bin noch am üben. Aber man kann ja mal zuwarten.
Ein paar Meter weiter leuchtet der Marktturm, mächig-prächtig wie die Mondrakete auf der Rampe. Seine Bruchsteinmauern hüten ein unvergessenes Stück Bacharacher Geselligkeits-Geschichte: In der Idylle lichtgedämpfter Dämmerräume schoss einmal die unbefleckte Fröhlichkeit deutscher Nachkriegszeit ins Kraut.
Dies vornehmlich im großen Schankraum im ersten Stock. Als in Bacharach noch das beliebte Winzerfest gefeiert wurde, war hier heißer Treff für Gäste, die es auf weinseligen Körperkontakt angelegt hatten. Auf engstem Terrain wurde getanzt. Ins Zentrum platzengen Miteinanders führte wie durch den Rachen einer aufgeklappten Falltür eine furchterregend schmale Treppe steil hinauf zur Tanzfläche.
Getanzt wurde hauptsächlich Klammerblues, damit niemand im hautengen Gerangel die Tische der Gäste rammte. Platz war einfach zu knapp „im Turm“.
A propos „Tische“. Beliebt waren bei Anhängern kuscheliger Enge die krottenschmalen Schießscharten. Man kauerte dort an einem puppenkleinen Tisch und schob unter der Platte aus massivem Eichenholz ungehemmt die Knie ineinander. Anders hätte der Gast erst gar nicht sitzen können. Die Platznot trieb, kaum dass man saß, den Stimmungspegel eines jeden Flirts in ungeahnte Höhen.
Man trank aus kleinen Gläschen kleine Schlückchen auf den kleinen Plätzen und genoss durch kleine Fenster den Blick hinunter auf Europas größten Strom, der im Mondlicht glitzerte, als habe Weingott Bacchus Millionen von Silbermünzen über ihm verstreut.
Platz für eine Musikkapelle gab es keinen. Dafür aber „Vogels Jupp“. Der hockte mit eingezogenem Hals am oberen Ende des lebensgefährlichen Treppenaufgangs unter einem schweren Deckenbalken. Von dort aus befeuerte er Gaststube, Tanzfläche und Schieß-Scharten mit seinem strahlenden Tenor.
Sein Lieblingshit: „Rheinische Lieder, schöne Frauen beim Wein“. Wenn „der Jupp“ den von der Kette ließ, hell wie Caruso, riss das den introvertiertesten Schwaben aus sich heraus.
Am Ende des Mauerweges thront der „Zunftturm“. Er ist das Stein gewordene Vermächtnis von Stolz und Schönheit. Großartiger kommt kein anderer Turm daher.
Er ist innen wie außen komplett restauriert und offizielle Bleibe der nach eigenem Bekunden ältesten Weinzunft der Welt, der „Weinzunft Bacchus von Bacharach“. Er hat die brutalsten Wechselfälle der Geschichte mit Haltung überlebt und steht immer noch. Hier ein paar Worte des Unverwüstlichen in eigener Sache:
„Ich halte seit hunderten von Jahren die Stellung am Nordende der Stadt und war längst nicht immer von einer Erscheinung, die Touristenherzen höher schlagen lässt. Als man mich gebaut hat, fehlte mir an der der Stadt zugewandten Seite sogar eine ganze Wand. Die hat man einfach weggelassen. Sie wurde nicht gebraucht, denn der Feind kam ja von außen.
Zwischen den drei übrigen Mauerwänden führten im Zickzack Holzleitern steil hinauf bis mir unters Dach. Über die haspelten im Kriegsfalle wehrhafte Mannen im Affentempo, rannten die inneren Mauersimse entlang und feuerten was das Zeug hielt durch die Schießscharten hinunter auf den Feind.
Bacharach war begehrtes Zielobjekt der Habgier: Wo heute der Zug vorbei fährt, schwappte vor ein paar hundert Jahren noch der Rhein an meine Fundamente. Um die herum stapelte sich in einer Armada aus Holzfässern die gesamte Weinernte von Hunsrück, Nahe und Rhein.
Der Großteil davon war „Feuerwein“, ein in abgedichteten Kammern mit Holzglut kochend heiß erhitzter Rebensaft. Den hatte man, mit Honig gesüßt und diversen Kräutern gewürzt, auf den lieblichen Wein-Geschmack der Zeit getrimmt.
Nach Abkühlung perlte der wie Sekt im Glas, mundete wolkenleicht wie heute „Federweisser“ und wurde verschifft. In die ganze alte Welt! Getreuer Abnehmer war immer auch der Papst in Rom.
Bis dahin hat meiner dickfelligen Statur außer ein paar juckenden Einschlägen von Kanonenkugeln kein kriegerischer Ansturm ernsthaft schaden können. Doch dann brach einer aus, der wütete gleich dreißig Jahre. Seinem Vernichtungsfeldzug war den ganzen Rhein entlang kein Turm gewachsen.
Am Schändlichsten sollen es dabei die Schweden getrieben haben, behauptet die Geschichtsschreibung. Doch sie scheint hier nicht auf dem Laufenden. Durch mein Tor war damals, das muss einmal gesagt werden, ein Trupp bajuwarischer Wilder eingefallen, dessen blindwütige Metzelei alle Barbareien des Dreißigjährigen Krieges in den Schatten stellte.
Den Rest besorgten Pest und Cholera. Meine Artgenossen und ich fanden uns am Ende des Infernos kopflos wieder in einer Wüstenei aus verkohlten Mauerstümpfen und trauerten der glorreichen Zeit der Feuerweinherstellung nach sowie der profitträchtigen Anhänglichkeit des Heiligen Vaters. Die Stadt versank in Armut, Elend und Verzweiflung.
während der Wind auf meinen Mauerwänden in den Einschlaglöchern der Kanonenkugeln ein schwarzes Lied vom Scheitern aller Hoffnung sang
Der Pfälzische Erbfolgekrieg, er kam danach und schlug noch einmal schrecklich zu und machte dem Erdboden gleich, was noch nicht vollends in Schutt und Asche lag. Nach so etwas kommt keine Nation mehr auf die Beine. Wir haben hundert Jahre lang geschlafen wie die Toten. Aber die Romantik hat uns wieder wach geküsst.
Was folgte war die grandiose Auferstehung Bacharachs aus den Trümmern der Geschichte zur weltberühmten Touristen-Stadt am Rhein.